Dieser Artikel erschien am 15. September 2015 in englischer Sprache auf Medium.
Der Sommer ist fast vorüber und mit Blick auf den Herbst schaue ich etwas verlegen auf meine Liste mit Vorhaben für dieses Jahr. Vielleicht kennen Sie das: obwohl ich über die Jahre vermutlich häufiger an meinen Neujahrsvorhaben gescheitert bin als das ich sie realisiert habe, konnte ich es trotzdem nicht lassen, auch zu Beginn dieses Jahres wieder eine Liste von ehrenwerten Vorhaben und Projekten zu erstellen. Anfang des Jahres hängte ich diese Liste gut sichtbar in mein Büro und betrachtete sie mit einer Mischung aus Hoffnung und vorauseilender Resignation.

Wie beinahe jedes Mal, folgte für viele meiner Projekte und Ziele auch diesmal gegen Mitte des Jahres eine Phase der Ernüchterung. Aus den Gesprächen mit meinen Klientinnen und Klienten weiß ich, dass ich hiermit nicht alleine bin. Enttäuscht stellen wir fest, dass wir wohl auch in diesem Jahr wieder einmal

  • nicht mit dem Rauchen aufgehört haben,
  • keine zehn Kilo weniger wiegen,
  • immer noch kein Italienisch sprechen,
  • unsere Umsätze nicht verdoppelt haben,
  • weiterhin nicht regelmäßig Sport treiben,
  • das Kinderbuch immer noch nicht geschrieben haben,
  • und unserem Chef gesagt nicht gesagt haben, dass wir ein Sabbatical wollen, damit wir unsere Weltreise machen können.

Unser innerer Zyniker kommentiert diese ausbleibenden Ergebnisse meist nur noch mit einer verächtlich hochgezogenen Augenbraue. Je älter wir werden (und mit uns unser innerer Zyniker), desto seltener macht sich über das erneute Abschweifen vom rechten Weg überhaupt noch tiefe Enttäuschung breit – denn mittlerweile kennen wir uns ja. Dennoch gibt es in uns immer einen Teil, der beim Blick auf die zerknitterte Liste mit Zielen bodenlos enttäuscht ist. Wie ein kleines Kind, das nach wie vor an die Versprechungen seiner Eltern glaubt, hat dieser Teil gehofft, ja sogar gewusst, dass es diesmal klappen würde.

Sollen oder Wollen

Mit Blick auf meine Neujahrsvorhaben der letzten Jahre stelle ich fest, dass meine wiederkehrenden Dauerbrenner deutlich eher in die Kategorie „Sollen“ als „Wollen“ fallen. Zum Beispiel scheint ein Teil von mir nach wie vor davon überzeugt zu sein, dass mein persönliches Seelenheil und mein wirtschaftlicher Erfolg davon abhängt, mindestens noch eine weitere Fremdsprache fließend zu beherrschen. „Spanisch lernen“ findet sich so seit Jahren auf meiner Liste. Genauso ist das Vorhaben, mir alle Artikel, Texte und Videos anzusehen, die mir geschätzte Kollegen über die letzten fünf Jahre zugesendet haben, ein weiterer Klassiker unter meinen Zielen.

Der Umgang mit diesen beiden ewigen „Solls“ bestand bislang darin, dass ich

  • ein Online-Sprachlernprogramm abonniert habe (selbstverständlich seit Jahren ungenutzt) und
  • alle Artikel, Links und Videos in einen E-Mail-Ordner verschiebe, der den sich selbst erklärenden Titel „Lesen!“ trägt.

Die ungenutzte Mitgliedschaft beim Online-Sprachlernprogramm könnte ich vermutlich gänzlich aus meinem Bewusstsein tilgen, wenn der Anbieter nicht die lästige Eigenschaft hätte, mich einmal jährlich freundlich über die erneute Abbuchung meines Mitgliedsbeitrags zu informieren.

Die Lösung für den lästigen „Lesen!“-E-Mail-Ordner gestaltete sich schon etwas schwieriger, da er mir wie ein mahnender Zeigefinger jedes Mal ins Auge bohrte, wenn ich mein E-Mail-Programm öffnete. Nachdem ich erst versuchte, meinen Blick nur noch möglichst vage über die Ordnerstruktur gleiten zu lassen, hatte das leider auch die unliebsame Konsequenz, dass ich auch Gesuchtes selten entdeckte. Daraufhin entwickelte ich eine geniale Lösung für mein Problem, die vielleicht so manchem bekannt vorkommt: Ich verbannte den Ordner „Lesen!“ eine weitere Ebene nach unten – in den ebenso populären Ordner „Wichtige Dokumente“.

Angst oder Liebe

Nach einer erhellenden Coaching-Sitzung mit meinem Coach (ja, auch Coachs lassen sich coachen), gab ich mir endlich die Erlaubnis, diese Fußfessel von einem Ordner endgültig zu löschen – mich dabei wissentlich dem Risiko aussetzend, dumm zu sterben. Erstaunlicherweise hat dieses eindeutige Abstandnehmen von meinem Dauervorhaben „Lesen!“ ein unverhofftes Gefühl von Leichtigkeit in mir ausgelöst.

Wer hätte geahnt, wie einfach Freiheit ist?

Als transformativer Coach spreche ich mit meinen Klienten häufig darüber, dass sich menschliche Motivation aus zwei grundsätzlichen Quellen speist: Aus der Angst oder aus der Liebe. Wenn diese These stimmt, dann sind auch unsere jährlichen Neujahrsvorhaben gespeist aus Angst oder Liebe. Liegen die Wurzeln eines Vorhabens in Angst, dann meistens in der Angst davor “nicht genug zu sein”: Nicht schön genug, schlau genug, gebildet genug, reich genug, fit genug, schlank genug, etc. Die grundsätzliche Bewegungsrichtung ist ein „weg von“. Weg vom dick sein, faul sein, ungebildet sein oder arm sein. Angst-Ziele sind somit Soll-Ziele, denn ein Teil von uns glaubt, dass wir anders sein sollten, um erfolgreich oder glücklich zu werden.

Die Richtung von Liebes-Zielen hingegen ist eine „hin zu“-Bewegung, also ein Wollen, das sich aus einer kreativen Schaffens-Quelle zu speisen scheint. Das soll nicht heißen, dass Vorhaben oder Ziele, denen ein „weg von“ zugrunde liegt, nicht legitim sind. Aber unsere „hin zu“-Ziele machen uns häufig mehr Freude.

Im Rahmen meiner Reflexion über Vorhaben und Ziele erkannte ich, welche wichtige Funktion meine Soll-Ziele haben: Sie lenken mich ab von der Beschäftigung mit meinen Liebes-Zielen! Dies mag wie eine seltsame Aussage anmuten – denn warum sollte irgendwer Ablenkung von seinen Liebes-Zielen brauchen? Weil der gefühlte Einsatz höher ist: dort wo ich etwas wirklich will, fängt mein Herz an zu klopfen und das Risiko ist größer als nur dem spöttischen Blick meines inneren Zynikers standzuhalten. Das starke „hin zu“ eines Liebes-Ziels drückt Sehnsucht aus:  die Sehnsucht eines noch etwas unbekannteren Teils meiner selbst. Dieser Teil hat definitiv die Befürchtung, dass das Scheitern eines Liebes-Ziels tiefere Kerben in meinem Selbstwert hinterlassen könnte als die erneute Nichterfüllung eines Soll-Ziels.

1000 Wege, wie es nicht funktioniert

Aber was ist schon Scheitern? Mir fällt zum Thema ein Zitat von Thomas Edison ein, der in Bezug auf die langwierige Entwicklung der Glühbirne gesagt haben soll: „Ich bin nicht gescheitert. Ich habe lediglich 1000 Wege gefunden, wie es nicht funktioniert.“ Nach dieser Definition bedeutet Scheitern, es wirklich probiert zu haben, echten Einsatz gezeigt zu haben, der eben (in dieser Runde) noch nicht ganz gereicht hat. Hingegen scheint mir das, was wir üblicherweise als Scheitern beschreiben, meist eher wie ein Euphemismus für das Aussitzen. Wir haben nichts gewagt, es gab keinen Einsatz – alles aus Angst, am Ende zu scheitern. Dabei hat ein grandioses Scheitern, ein von Pauken, Trompeten und echten Gefühlen begleitetes, wenig zu tun mit der phlegmatischen Kapitulation unseres inneren Stubenhockers.

Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich in meinem Leben nie wirklich aus dem Fenster gelehnt – zumindest nicht weiter als das, was ich als „noch sicher“ empfand. Meine großen Liebes-Ziele habe ich geheim gehalten, manchmal sogar vor mir selbst. Aber selbst meine bislang eher kleinen und zaghaften Versuche, meinem inneren Wollen Raum zu geben, haben mir letztlich zwei Dinge bewiesen: a) Der „Misserfolg“ war tatsächlich in jedem Falle weit weniger desaströs als befürchtet und b) allein die Tatsache, gehandelt zu haben, hat mich weitergebracht und den Bann meines Phlegmas gebrochen.

In diesem Jahr trompetete ich also meine Liebesziele laut in die Welt, stellte mich der Möglichkeit des grandiosen Scheiterns – und öffnete damit auch dem Gelingen Tür und Tor. Meine deklarierten Liebes-Ziele für dieses Jahr waren:

  • die großartige Musikerin und Performerin Amanda Palmer dazu zu bewegen, die Einleitung für mein Buch zu schreiben.
  • die in Berlin bereits sehr aktive, „Conscious U“-Gemeinde auszubauen und im virtuellen Raum zur besten Online-Plattform für persönliche Entwicklung in Deutschland zu machen.

Noch ist das Jahr nicht vorbei – aber schon jetzt kann ich sagen, dass ich mit einem dieser Ziele groß gescheitert bin: Die Einleitung für mein Buch von Amanda Palmer werde ich nicht bekommen. Trotzdem bereue ich es nicht, es versucht zu haben. Gerade weil ich mich damit weit aus dem Fenster gelehnt habe, würde ich es jetzt (und werde ich es jetzt) wieder tun! Das zweite Ziel ist in Bearbeitung und wird bis Ende des Jahres zumindest große Fortschritte gemacht haben.

In diesem Sinne lade ich Sie ein, Ihre Liste mit den guten Vorhaben für dieses Jahr noch einmal zu überdenken (oder überhaupt eine zu schreiben): Wie viele Angst-Ziele oder Soll-Ziele sind auf Ihrer Liste? Und wie viele Liebes-Ziele tragen Sie in Ihrem Herzen, die Sie nicht aufgeschrieben haben?

Und was könnte passieren, wenn Sie sich mit vollem Risiko und mit voller Lust in das Abenteuer der Realisierung eines Liebes-Ziels werfen würden?