Dieser Artikel erschien am 1. November 2015 in englischer Sprache auf Medium.
Ich wähle diesen Blog, um über einen sehr persönlichen Abschied zu berichten. Im Oktober starb meine Mutter nach einer langjährigen Krebserkrankung. Aufgrund der Art ihrer Erkrankung wussten wir schon lange, dass sie jünger sterben würde als die meisten von uns. Meine Mutter, Theresia Hebenstreit, war Künstlerin und hat Zeit ihres Lebens ihre Kunst in Form von Skulpturen und Bildern erfolgreich in die ganze Welt verkauft. In den letzten Monaten vor ihrem Tod habe ich oft darüber nachgedacht, wie ich der Welt mitteilen will, dass sie gestorben ist. Traditionell sendet man Postkarten an Menschen, welche die Verstorbene gekannt haben und setzt eine Traueranzeige in die lokale Zeitung. Meine Mutter aber hatte, wie viele Menschen heutzutage, einen Teil ihres Lebens „online“ – im Austausch mit Menschen, die sie berührt hat, aber für die sie nie eine Anschrift hatte. Dennoch: Ein Facebook-Post mit „ Meine Mutter ist gestorben“ ist irgendwie bizarr in Anbetracht  der Lage. Und was sollen andere mit diesem Post machen? Ihn „liken“? Also habe ich entschieden, den Brief an sie, den ich während ihrer Trauerfeier am 27. Oktober den versammelten Freunden und Kunden vorlas, als Blog-Post zu veröffentlichen. In meinem Brief spreche ich über die Dinge, die ich über das Leben und Sterben von und mit meiner Mutter gelernt habe. Ich denke, dass diese Erkenntnisse auch für diejenigen von Ihnen und Euch, die meine Mutter nicht kannten, von Interesse sind. Nadjeschda Taranczewski

Ein Brief an meine Mutter

Meine geliebte Mama. Letzte Woche bist Du gestorben. Du warst eine Künstlerin, die mit ihren Werken viele Menschen berührt hat. Während der letzten Woche ging eine Flut von Kondolenz-Schreiben per E-Mail und Post bei Holger, Deinem Mann, und mir ein. Viele der Schreiben enthielten ein Foto einer Deiner Skulpturen oder Bilder in der Wohnung ihres jetzigen Besitzers. Zu wissen, wie sehr Deine Kreationen Menschen auf der ganzen Welt täglich Freude bringen, ist ein Trost für Holger und mich. Ich möchte Dir in diesem Brief mitteilen, was ich über Leben und Sterben während dieser letzten Monate mit und von Dir gelernt habe. Es sind fünf Erkenntnisse, die mich den Rest meines Lebens begleiten werden.

1 – Das Leben organisiert sich um die Prioritäten, die ich setze

Mein Beruf als Psychologin und Coach erfordert traditionell, viel zu reisen. Als sich Dein Zustand Ende letzten Jahres dramatisch verschlechterte, traf ich die Entscheidung, Dir und uns das nächste Jahr zu widmen und habe alle Termine abgesagt, die mich für länger als zwei Tage am Stück gebunden hätten. Ich habe diese Botschaft von der Wichtigkeit der eigenen Prioritäten meinen Klienten schon immer versucht zu vermitteln, aber selbst verstanden habe ich sie erst in diesem Jahr. Zehn Monate lang habe ich Dich und Holger einmal, manchmal auch zweimal im Monat in Wiesbaden besucht. Und auf stillere Art und Weise ist auch mein Arbeitsleben weitergegangen: Ich hatte mehr Zeit für mich, habe mein Buch fertig geschrieben, habe mich intensiver um meine Einzelklienten gekümmert und war mehr zuhause. Mein Leben hat sich auf magische Weise um die Priorität organisiert, die ich gesetzt habe: Zeit zu haben für Dich und unsere Beziehung. Ich weiß, dass ich diese Entscheidung nie bereuen werde. Ich bin zutiefst dankbar für jede Stunde, die ich mit Dir geredet, gemalt, vorgelesen, gelaufen und gekuschelt habe. Ich habe jetzt begriffen, dass nur ich entscheiden kann, was in meinem Leben von Bedeutung ist. Natürlich habe ich auch schon vorher deklariert, dass die höchste Priorität meiner Familie und meinen Freunde gilt – aber gelebt habe ich es nicht. Für mich hat es sich gelohnt, hinter meine Verpflichtungen und meine Angst zu schauen. Gefunden habe ich die Freiheit. Die Freiheit, das Leben zu leben, was ich leben möchte und was ich noch für einige, sehr intensive Monate mit Dir teilen durfte.

2 – Sprich über die Liebe

So oft nehmen wir die Liebe für selbstverständlich. Und wir nehmen an, dass die anderen schon wissen, wie wir für sie empfinden. Mit Dir habe ich erleben dürfen, wie wunderbar es sich anfühlt zu sagen „Ich liebe dich“ und wie wunderbar es sich anfühlt, die gleichen Worte von Dir zu hören. Ich kann nicht  zählen, wie oft wir uns das in den letzten Monaten gesagt haben. Daraus resultierten, mehr als einmal, Momente in denen wir beide weinten – aus dem reinen Glück darüber, dass wir am Leben sind und in der Lage, ein Gefühl dieser Stärke miteinander zu teilen. Vielleicht erinnerst Du Dich an den Witz über die Frau, die eines Tages am Frühstückstisch von ihrem Mann wissen will, ob dieser sie nach 20 Jahren Ehe noch liebt. Etwas genervt blickt dieser auf von der Frühstückszeitung und antwortet „Ich habe dir an unserem Hochzeitstag gesagt, dass ich dich liebe. Wenn sich daran etwas ändert, dann lasse ich dich das wissen.“ Ich bin froh, dass wir nicht so waren. Mein inneres Kind hat nie aufgehört, sich nach diesen Worten aus Deinem Mund zu sehnen. Und es hat nie aufgehört, glücklich darüber zu sein, wenn es sich von Dir gesehen und gewollt gefühlt hat.

3 – Sprich über den Tod

Die Themen Sterben und Tod lösen bei vielen Menschen eine tiefe Angst aus, der wir versuchen zu entgehen, indem wir sie meiden. Mehr als nur ein paar meiner Freunde haben ebenfalls Familienangehörige, die mit einer schwierigen oder tödlichen Krankheit kämpfen. Dennoch wird auch in diesen Haushalten sehr selten über den Tod gesprochen. Wir meiden das Thema, weil wir nicht wissen, was wir sagen sollen oder fürchten, darüber zu reden könnte es irgendwie schlimmer machen. Wir beide haben viel über den Tod gesprochen. Deinen Tod, aber auch den Tod im Generellen. Diese unbequemen Gespräche haben uns immer zu anderen Themen geführt, meistens zurück zur Liebe. Seitdem spreche ich auch mit anderen geliebten Menschen über den Tod und ich bin immer wieder berührt von der Tiefe dieser Gespräche. Unser Reden über den Tod hat mir Dein unausweichliches Sterben nicht verständlicher gemacht. Aber darüber zu sprechen hat dazu geführt, dass wir uns beide weniger alleine gefühlt haben und mehr verbunden waren auf dieser unglaublichen, menschlichen Reise.

4 – Fasst Euch an!

Wir beide hatten eine ungewöhnlich körperliche Beziehung. Ich weiß, dass nicht jeder seinen Eltern körperlich nah sein kann oder will – aber es ist wert, es zu probieren, sich zu wagen dem anderen nahe zu kommen, eine körperliche Beziehung herzustellen – selbst wenn wir nur Hände halten. Mein Körper, Dein Körper, der Körper eines jeden Menschen ist nicht nur ein Transportmittel für unseren Kopf. Unser Körper ist unsere Heimat, der Ort an dem „Ich“ stattfindet und weshalb ich mich besonders dann geliebt gefühlt habe, wenn du mich gehalten, meine Hand oder meinen Kopf gestreichelt hast. Deinem körperlichen Verfall zuzusehen war nicht einfach. Ich habe erlebt wie Du, meine starke und gesunde Mama, am Ende zu schwach warst, um Deinen Arm zu heben und Dich an der Nase zu kratzen. Ich habe die Blutergüsse gesehen, die als Nebenwirkung Deiner Krankheit Deinen ganzen Körper bedeckt haben. Und trotzdem habe ich Deinen Körper in jeder Phase geliebt –  weil ich Dich liebe. Uns anzufassen, körperlich zu sein, hat uns erlaubt, unseren Gefühlen eine Sprache zu geben, wenn es keine Worte gab.

5 – Lach so oft du kannst und weine so lange du musst

Eine Deiner wunderbaren Qualitäten war Deine Fähigkeit, Deine Gefühle zuzulassen ohne zu befürchten, dass ein Gefühl ein anderes negiert oder diskreditiert. Während der letzten Jahre Deiner Krankheit haben wir viele lustige Momente erlebt. Wenn Du gefragt wurdest, wie es Dir geht, hast Du häufig geantwortet: „Wunderbar. Wenn nur das bisschen Krebs nicht wäre!“ Und Du hast immer wieder gekichert, wenn ich den gleichen Witz gemacht habe: „Mama, iss nicht den verbrannten Toast, das macht Krebs!“ Während Deiner letzten Tage im Krankenhaus bist Du im Badezimmer ausgerutscht und hast Deine Rippen verletzt. Als Du im Bett lagst, stark sediert durch Schmerzmittel, sagtest Du zu Deiner liebsten Krankenschwester: „Erst hatte ich kein Glück und dann kam auch noch Pech dazu“. Wir mussten alle ziemlich lachen über die tiefere Wahrheit dieses Spruchs im Kontext Deines Lebens. (Zitat eines Ausspruchs des Fußballspielers Jürgen Wegmann). Zur gleichen Zeit hast du immer wieder Deiner Traurigkeit, Deiner Hoffnungslosigkeit und Wut Raum gegeben. Zusammen haben wir Dein schwindendes Leben beweint. Du hast Dich nicht geschämt, Deine Gefühle mit Menschen zu teilen, die etwas davon wissen wollten. Und Du hast Dich nicht zu schützen gesucht vor meinen Gefühlen und mich immer ermutigt auszudrücken, wie es mir geht. Du hattest einfach keine Angst vor Gefühlen, hast sie alle wertgeschätzt als gleichwertigen Ausdruck von Menschlichkeit. Aus diesem Grund war es leicht, mit Dir zu sein. Die Dinge waren so wie sie waren und Du hast nie so getan, als seien sie anders. Du warst eine wundervolle, kreative und liebevolle Frau. Du warst meine erste Liebe, so wie das vermutlich für fast alle Kinder dieser Welt ihre Mama ist. Und jetzt bist Du weg. Ich beneide religiöse Menschen, die Trost finden in der Idee eines Paradieses, eines Lebens danach oder der Idee von Wiedergeburt. Doch obwohl ich nicht glaube, dass Dein Bewusstsein in einem anderen Körper wiedergeboren wird, heißt das nicht, dass ich Dein Bewusstsein für verloren halte oder Dein Leben gar für bedeutungslos. Wer Du warst, was Du geschaffen hast, aber vor allem, wie viel Du geliebt hast – das zählt. Es ist meine Überzeugung, dass die Liebe unser Beitrag zur Evolution des Lebens ist. Ich denke, dass ich Dir in vielerlei Hinsicht ähnlich bin. Die Qualität, für die ich Dir am dankbarsten bin, ist die Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden. Und deshalb ist das Wertvollste, was Du mir hinterlässt nicht etwa Deine wundervolle Kunst, sondern die Menschen, die Du geliebt hast und die damit auch Teil meines Lebens sind. Aus diesem Grund hattest Du ein glückliches Leben – und Du warst dir darüber bewusst. Ich will diesen Brief beenden mit einem Zitat (aus dem Film Interstellar): „Liebe ist nicht etwas, was wir uns ausgedacht haben. Sie ist beobachtbar, kraftvoll, sie muss etwas bedeuten… Liebe ist die eine Sache, die wir in der Lage sind wahrzunehmen, die die Dimensionen von Zeit und Raum transzendiert.“ Und weil Liebe ein Ereignis ist in mir, welches immer dann stattfindet, wenn ich an Dich denke, sage ich nicht „Mama, ich habe Dich sehr geliebt“, sondern „Mama, ich liebe Dich sehr“. Danke für alles. Deine Tochter, Nadja